Wenn du angegriffen wirst,
schließe deinen Gegner ins Herz.

(Ueshiba Morihei, Begründer des Aikido)

In den vorhergehenden Beiträgen der Serie »VUCA-Handling« habe ich (nach einer Skizze, was unter VUCA zu verstehen ist) konkrete Alternativen bezüglich Strategieansatz, Organisationsform und Teamarbeit vorgestellt. In diesem Beitrag möchte ich in einer Art Zwischenresümee zur Diskussion stellen, mit welchen prinzipiellen Grundhaltungen man sich in der VUCA-Situation Resilienz und neue Souveränität aufbauen kann.

Grundsätzlich möchte ich dazu vorausschicken, dass das VUCA-Konzept unter keinen Umständen als Entschuldigung für eine »selbst verschuldete« Situation missbraucht werden sollte. Jede Führungskraft und jede(r) Mitarbeitende sollte sich reflektiert mit der Frage auseinandersetzen, wo ihr/sein aktiver Part an der VUCA-ness der Situation besteht. Anschließend kann man sich die Frage stellen, wo und wie man Volatilität in Stabilität, Unsicherheit in Sicherheit, Komplexität in Einfachheit und Ambiguität in Eindeutigkeit (zurück) transformieren kann.

In vielen Fällen gibt es jedoch Bereiche des (Arbeits-)Lebens, in denen VUCA nicht (re-)transformiert werden kann. Um hier handlungsfähig zu bleiben, bedarf es einer integrierenden Antwort auf VUCA: Wenn ich die Situation nicht aktiv gestaltend verändern kann, so kann ich sie dennoch »umarmen«. Mit dieser Haltung ist es möglich, dem Opferstatus in der VUCA-Situation zu entkommen.

In einem meiner ersten Beiträge in diesem Blog habe ich mit Referenz auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben die Situation von Unternehmen als »Ausnahmezustand« reflektiert – dessen Charakteristika decken sich eins zu eins mit der als VUCA beschriebenen Situation. In dem gleichen Beitrag wurde bereits die Künstlerin und Kulturphilosophin Yana Milev vorgestellt, die mit ihrem »Emergency Design« in Spontaneität, situativem Handeln und Kreativität die vielversprechendsten Antworten auf den Ausnahmezustand erblickt. Unter anderem plädiert sie dafür, ein Emergency Design nach Aikido-Prinzipien aufzubauen. Milevs Idee für den sozio-politischen Kontext möchte ich aufgreifen und für den wirtschaftlichen VUCA-Kontext in Dienst nehmen. Wie könnte eine erfolgreiche Aikido-Reaktion im Unternehmen aussehen?

Wie oben bereits aufgeführt: Unsere bewährten Reaktionsansätze auf Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität zielen auf die Wiederherstellung von Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit ab. Immer öfter erweist sich diese »Kampfstrategie« jedoch als unbrauchbar. Im Gegensatz dazu versucht ein VUCA-AIKIDO nicht, den alten Zustand wieder herzustellen, sondern zielt auf eine fließende, balancierte Harmonie (AI) zwischen Energie (KI) und Weg (DO) ab. Der Japaner Ueshiba Morihei entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts das Aikido als betont defensive Kampfkunst. Ihr generelles Ziel ist nicht der Sieg über den Gegner, sondern die Abwehr und Sicherung ohne offensiven Angriff. Dabei versucht ein Aikido-Kämpfer, die Kraft des gegnerischen Angriffs im ersten Schritt abzuleiten, um nicht getroffen zu werden. Im zweiten Schritt wird dieselbe Kraft dann umgeleitet und gegen den Gegner selbst geführt: Dieser wird quasi mit seiner eigenen Kraft vorübergehend kampfunfähig gemacht. Analog dazu geht es im VUCA-AIKIDO darum, sich selbst so zu positionieren, dass man von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität nicht mehr getroffen werden kann. Zusätzlich ist der Blick darauf zu werfen, wie die vier auf den ersten Blick destruktiv wirkenden VUCA-Attribute zum eigenen positiven Effekt genutzt werden können.

Ohne weiter ins Detail zu gehen, möchte ich folgende sechs Grundhaltungen als Fokuspunkte eines VUCA-AIKIDO vorschlagen:

Agilität: Ich begreife mich in meiner Selbstwirksamkeit und strebe nach größtmöglicher Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Ich bin aktiv, wach, leicht, schnell, wendig, reaktiv, anpassungsfähig und in Bewegung. Ich verfüge über Puffer, die mich jedoch nicht behindern. Ich bin sinnvoll risikobereit.

Inspiration & Intuition: Ich bin begeistert: intellektuell angeregt, motiviert, stimuliert. Ich schenke anderen und mir selbst Vertrauen. Ich traue meiner Erfahrung, agiere pragmatisch, kann improvisieren. Gleichzeitig bin ich offen für neue Ideen und Experimente. Ich wertschätze Fehler als Chancen zu lernen.

Klarheit: Ich weiß um den Sinn, den ich mit meinem Tun stifte. Ich bin mir meiner Werte bewusst, an denen ich mein Handeln ausrichte. Ich kenne (meine) Grenzen. Ich verstehe meine Rollen. In all dem bin ich für mich und andere transparent. Ich entscheide zügig und setze Entscheidungen konsequent um.

Inter-Aktivität: Ich gebe ohne sofort nehmen zu müssen. Ich lade kontinuierlich zum Dialog ein. Ich bin in guter Verbindung mit vielen anderen Menschen. Ich nutze meine Einflussmöglichkeiten und bin mir der Einflüsse auf mich bewusst. Ich nutze die Schwarmintelligenz und Viralität meines Netzwerks.

Diversität: Ich wertschätze und fördere die mich umgebende Vielfalt. Ich bin offen für andere Perspektiven und kann sie empathisch nachvollziehen. Ich begreife mich selbst in meiner Mannigfaltigkeit und kann in unterschiedlichen Rollen agieren. Ich mache einen Unterschied.

Organizismus: Ich begreife mich als aktiven Teil eines (sozialen) Ökosystems und habe das stabile Ungleichgewicht des Ganzen im Blick. Ich agiere synergieorientiert. Ich lerne kontinuierlich. Ich ziehe das Werden dem Sein vor. Ich wertschätze das Jetzt im Fluss. Ich liebe und ehre das Leben!

Mit diesen sechs Grundhaltungen eines VUCA-AIKIDO kann man im Unternehmen eine grundsätzliche VUCA-Resilienz aufbauen und unter veränderten (bzw. sich ständig verändernden) Vorzeichen weiterhin souverän agieren!

Mir ist bewusst, dass diese Prinzipien in zusammengefasster Form abstrakt klingen und für den Unternehmenskontext noch mehr konkretisiert werden müssen. Dem aufmerksamen Leser dieses Blogs wird jedoch so manche Grundhaltung bereits in konkreterer Form in einem Beitrag begegnet sein. Auch die kommenden Kurztexte werden im Rückgriff auf Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften möglichst konkrete Vorschläge erarbeiten, wie ein VUCA-AIKIDO im Unternehmen in der Praxis realisiert werden kann.

Johannes Ries