Die in diesem Blog bereits aus strategischer und organisationaler Perspektive beleuchtete VUCA-ness der Wirtschaftswelt beeinflusst auch die Formen der Teamzusammenarbeit im Unternehmen.

Aufgrund der hohen Komplexität in globalisierten Organisationen brechen die für das effektive Zusammenarbeiten notwendigen Einheiten immer weiter auf. Die Kolleginnen und Kollegen sind weltweit verstreut und für den Einzelnen vor Ort nicht mehr greifbar – man begegnet ihnen allenfalls virtuell. Auch vor Ort herrscht ein reges Kommen und Gehen bzw. An- und Abreisen. Durch das Taumeln aller zwischen dicht getakteten Terminen in überfüllten Kalendern erhöht sich sogar in lokal ansässigen Teams zunehmend die Volatilität.

Für meine Beraterkolleginnen und -kollegen und mich wird dieser Trend vor allem in Workshops spürbar – zum Beispiel in folgender Situation: Es ist kaum mehr möglich, alle Teilnehmenden für mehr als einen halben Tag gemeinsam in einem Raum zu halten. Einige kommen verspätet, da sie so stark durchgetaktet sind, dass eine kleine Irritation wie ein Stau oder ein verspäteter Zug ihren gesamten Tagesablauf zusammenbrechen lässt. Andere sind allein körperlich anwesend – ihr Geist befindet sich in der Tiefschlafphase, da ihre Heimatzeitzone mindestens einen Kontinent weiter westlich oder östlich liegt. Ständig verlassen Einzelne spontan den Raum, um einen wichtigen Telefonanruf anzunehmen. Andere haben sich bereits im vorhinein entschuldigt, die Veranstaltung »kurz« für eine Videokonferenz verlassen zu müssen. In jeder Pause werden die Laptops aufgeklappt und Emails beantwortet. Gegen Ende des Workshops brechen die ersten bereits vor der Verabschiedung auf, da sie ihren Flug erwischen müssen. Dem allen versucht nur der Workshop-Sponsor durch ein Pochen auf Disziplin oder das Hochhalten von Handy-Regeln entgegenzutreten. Oder aber er entscheidet sich zur Unterdrückung der aufsteigenden Aggressionsschübe und nimmt die Situation hin … Die Volatilität der Teilnehmenden ist in diesem Beispiel eine zentrale Herausforderung, mit der die Moderation zu kämpfen hat.

Es gibt eine hohe Dichte an Beratungsliteratur, wie man Teamarbeit in Meetings regelt, effizient und effektiv gestaltet. Meine Hypothese lautet jedoch: Die Volatilität der Teilnehmenden wird (wie auch die Komplexität der Organisation) trotzdem eher zu- als abnehmen. Zunehmende Disziplinierung wird die VUCA-Herausforderung der Teamarbeit nicht lösen, sondern wahrscheinlich eher verstärken. Ich möchte in diesem Beitrag einer anderen Spur folgen: Vielleicht lässt sich mit der Vergemeinschaftungsform der multitude unabhängig von Einheitlichkeit und Geschlossenheit ein erfolgreicheres Zusammenarbeiten in der VUCA-Situation realisieren.

Ich möchte dazu zunächst um fast 350 Jahre zurückspringen: Um 1670 publiziert der niederländische Optiker und Philosoph Baruch de Spinoza seine Gedanken über Ethik und politische Führung. Mit seinen Ideen zur Gedankenfreiheit und seiner historisch-kritischen Bibelanalyse macht er sich unbeliebt bei den etablierten Autoritäten. Unter anderem stößt sein Konzept der multitudo (lat: große Anzahl, Menge, Vielzahl) als wesentliche Trägerin der zivilen Freiheit nicht gerade auf breite Zustimmung. Als multitudo bezeichnet Spinoza eine Vielheit von Menschen, die niemals in der Einheit aufgeht. Dem Philosophen zufolge können sich Menschen zusammenschließen und gemeinsam handeln, ohne ihre Unterschiedlichkeit aufzugeben. Sie können in ihrer Vielfalt bestehen bleiben, ohne Zentrum oder Hierarchie aufbauen zu müssen. Durch affektive Hinwendung Einzelner zu gemeinsamen Themen und in der Immanenz der Situation kann eine multitudo handlungsfähig bleiben, ohne klar festgelegt und definiert zu sein. Spinoza ist dabei überzeugt, dass der Mensch (durch Rationalität befreit) grundsätzlich tolerant und selbstverständlich wohltätig agiert.

Etwa zeitgleich entwirft Thomas Hobbes, englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und ebenfalls Philosoph, mit seinem Programm des aufgeklärten Absolutismus das exakte Gegenprogramm: Für ihn ist Spinozas multitudo mit allen Mitteln zu bekämpfen, da sie die Einheit des Staates gefährdet. Hobbes’ Gegenbegriff ist der des Volkes, das in einem gemeinsamen Willen geeint ist und mit einer gemeinsamen Haltung konzertiert agiert. Geschlossen bezieht sich das Volk auf eine gemeinsame Essenz und muss dem gleichen Ziel zustreben. Da der Mensch im Urzustand seinen Mitmenschen ein Wolf ist, muss er sich vor seiner eigenen Schlechtigkeit und der Boshaftigkeit der anderen schützen. Als Bürger schließt er sich daher mit allen anderen Mitbürgern zusammen und unterwirft sich aus Selbstschutz dem staatlichen Souverän. In einem großen Gesellschaftsvertrag wird dem Souverän – der über allen anderen steht – Entscheidungsgewalt und Richtspruch übertragen.

Mit Hobbes und Spinoza befinden sich damit bereits im 17. Jahrhundert zwei Diskurse des Zusammenlebens, -wirkens und damit auch -arbeitens im Widerstreit: homogene, transzendental fokussierte Einheit versus heterogene, immanent-situativ agierende Vielfalt. Die Zwischenfrage, ob Unternehmen heute eher nach Hobbes’ oder Spinozas Modell organisiert sind, dürfte sich von selbst beantworten. Nicht umsonst hatte auch der Streit damals einen eindeutigen Sieger: Die Politik gab Hobbes recht und Spinoza wurde als nicht ernst zu nehmend aus den Diskursen verbannt.

Seit kurzem bekommt sein Konzept in anglizierter Form jedoch wieder neuen Rückenwind –auch wenn es derzeit weiterhin allein in randständigen Gefilden rezipiert wird. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt und die beiden italienischen Philosophen Antonio Negri und Paolo Virno sehen in der multitude eine wirksame Organisationsform im Ausnahmezustand unseres Wirtschaftssystems. Die mitunter recht radikal denkenden Kapitalismuskritiker definieren die multitude schlicht als »Singularitäten, die gemeinsam handeln«, als ein heterogenes Feld von Menschen, die nicht mit sich identisch sind, als »Viele als Viele«. Mit der multitude sehen Hardt, Negri und Virno die Möglichkeit einer souveränen Selbstorganisation, die in voller Diversität im allumfassenden Druck der Arbeits- und Wirtschaftswelt bestehen kann.

Hardt, Negri und Virno hatten mit ihren Ideen großen Einfluss auf die Occupy-Bewegung, die in den Jahren 2011 und 2012 ausgehend vom New Yorker Zuccotti (bzw. Liberty Plaza) Park für Monate Politik und Finanzwelt auf Trab hielt. Einer der größten Irritationspunkte für viele Politiker und Journalisten war die konstante Weigerung der Bewegung, sich ein Programm zu geben oder dauerhafte Führer oder Sprecher zu benennen. Occupy wurde mangelnde Zielrichtung vorgeworfen, jedoch behielt sich die Bewegung mit diesem Vorgehen ihren Charakter als multitude: sie verhinderte kontinuierlich ihre eigene Stabilisierung, erlaubte keinen eindeutigen Kontaktpunkt und feierte konsequent ihre Vielstimmigkeit. Was (extern) als VUCA erlebt wurde, war (intern) Motor und Energiespender für die sozial-politische Bewegung. Wie ein großer, globaler Flashmob agierte Occupy aus der Situation heraus mit der Energie derer, die sich freiwillig mit anderen für den Moment zusammenschlossen, um den eigenen, individuellen Zielen und Botschaften Ausdruck zu verleihen. Aus der immanenten Vielstimmigkeit heraus konnten Anstöße in den verschiedensten Feldern von Kunst, Kultur, Gesellschaft und nicht zuletzt auch Wirtschaft und Politik gegeben werden, ohne dabei auf ein, zwei Kernbotschaften reduziert zu werden.

Ich möchte hier weder für die Besetzung von Unternehmen plädieren, noch die Occupy-Bewegung für den Kapitalismus missbrauchen. Ich glaube jedoch, dass eine multitude-Orientierung in Unternehmen beides ermöglicht: Die von VUCA-ness torpedierte Zusammenarbeit im Unternehmen kann mit ihr effektiver und damit (wirtschaftlich) erfolgreicher gestaltet werden; gleichzeitig ermöglicht sie dem Menschen im Unternehmen ein souveräneres Agieren in (durch VUCA) zunehmend inhumaner erlebten Arbeitsbedingungen.

Wie könnte nun die multitude als Form der Zusammenarbeit im Unternehmen wirken? Die grundsätzliche Frage, die aus meiner Perspektive in diesem Zusammenhang zu stellen ist, lautet: Zwinge ich die Vielen in ihrer individuellen Situation in mein einheitliches Format der Zusammenarbeit? Oder gestalte ich das Format der Zusammenarbeit so, dass es die Vielen optimal mit ihrer individuellen Situation ausfüllen können? Bloße Anwesenheit von Menschen garantiert keinen Arbeitserfolg. Pflichtveranstaltungen sind meist wenig produktiv. Doch je mehr sich Mitarbeitende in einem freiwilligen Kontext befinden, desto höher sind Motivation, Engagement und die Qualität der Arbeitsergebnisse.

Seit einiger Zeit versuche ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen sowie in Abstimmung mit experimentierfreudigen Kundenunternehmen Veranstaltungen so zu designen, dass die Teilnehmenden in ihr als multitude agieren können. Dazu greifen wir unter anderem auf bereits etablierte Formate wie Harris Owens Open Space oder neue Ideen aus der Stadtentwicklung zurück. Natürlich wird das jeweilige Design jeweils eng auf das Thema abgestimmt. Die am Bild der multitude orientierte Grundidee ist jedoch immer, die Teilnehmenden nicht mehr als Einheit zu begreifen, die in allen Punkten gemeinsam agiert, sondern Diversität hinsichtlich Persönlichkeiten und der Teilnahme an der Veranstaltung zuzulassen. Alle Verpflichtung wird auf ein Minimum zurückgefahren (reduzierte Push-Faktoren), dafür wird versucht, die Veranstaltung für Teilnehmende so attraktiv wie möglich zu machen (erhöhte Pull-Faktoren). Die Veranstaltung wird im Sinne einer Plattform konzipiert, an welche die Teilnehmenden andocken können. Die Moderation versucht, nur einen minimalen Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen sich die Teilnehmenden selbst organisieren können und müssen. Volles Vertrauen wird auf die Emergenz gesetzt: auf die spontane Herausbildung neuer Qualitäten durch das Zusammenspiel einzelner Menschen.

Ein konkretes Beispiel soll zeigen, wie eine solche multitude-orientierte Zusammenarbeit dann aussehen kann: Im Zuge eines umfassenderen Organisationsentwicklungsprojekts war es nötig, das bisherige Konzept mit der internen Projektgruppe abzustimmen, deren Mitglieder aus verschiedenen Unternehmensfunktionen stammten. Gewöhnlich wäre dafür ein Workshop angesetzt worden, in welchem sich die Projektgruppe volle zwei Tage geschlossen abgestimmt hätte. Im Gegensatz dazu entschied sich die SYNNECTA-Projektgruppe (Marc C. Berger, Anja Kulik, Dr. Andreas Lindner, Thomas Meilinger, Michael Stiegler und ich) für ein alternatives multitude-Konzept: An zentraler Stelle wurde ein sogenanntes Open Office eingerichtet, in welchem der Status des Konzepts über Poster und andere Medien visualisiert ausgestellt war. Die Projektgruppenmitglieder wurden eingeladen, innerhalb der zwei Tagen zu einem ihnen angenehmen Zeitpunkt ins Open Office zu kommen, um ihre Perspektive auf das Konzept einzubringen. Kontinuierlich waren nur der interne Projektleiter und zwei Berater als Open Office-Team anwesend. Tatsächlich kamen alle Projektgruppenmitglieder innerhalb der zwei Tage und diskutierten engagiert und fokussiert den Projektstand. Dadurch, dass manche mehrmals kurz, andere nur einmal (dafür länger), wieder andere einen ganzen Tag blieben, fand die Diskussion in ständig neuen Konstellationen statt. In »Leerzeiten« arbeitete das Open Office-Team die Diskussionen auf, fokussierte das Erlebte und diskutierte das weitere Vorgehen mit den nächsten Teilnehmenden. Der Output dieses Open Office-Workshops stand dem eines konventionellen Workshops qualitativ in nichts nach. Gleichzeitig konnte jedoch auf Kundenseite eine Effizienzsteigerung erreicht werden: Die einzelnen Teilnehmenden waren zu jedem Zeitpunkt im Open Office konzentriert, da sie für sich selbst den richtigen Zeitpunkt für die Tätigkeit ausgewählt hatten. Gleichzeitig sparten sie Zeit und Kapazitäten ein, damit natürlich aus unternehmerischer Sicht Geld.

Mit einem solchen Format steigen jedoch enorm die Anforderungen an die Moderierenden: Gefordert sind als Reaktion auf die Volatilität ein hochgradig flexibles Reagieren auf die Situation und die jeweils gegenwärtige Zusammensetzung der Teilnehmenden. Um mit der Unvorhersagbarkeit des Verlaufs umgehen zu können, muss mit fuzzy visions gearbeitet und eine hohe Prozessoffenheit ausgehalten werden. Die Moderierenden müssen die sich ständig verändernde, komplexe Interaktion von bereits Agierenden und neu Hinzukommenden im Blick haben. Hierzu müssen sie noch mehr als früher fähig sein, empathisch, intuitiv und analytisch die Situation einschätzen und schnell entscheidend mit Interventionen reagieren zu können. Gleichzeitig sind eine erhöhte Methodenkompetenz und ein differenzierter Tool-Baukasten erforderlich. Die richtige Balance zwischen selbstbewusst Anziehen und vertrauend Loslassen, zwischen Herausfordern und Unterstützen muss gefunden und gehalten werden – dann ergibt sich der richtige, attraktiv wirkende Flow, in welchem die multitude ihr Potenzial der Vielen als Viele entfalten kann.

Mit diesem Beitrag fordere ich nicht, alle Teams im Unternehmen aufzulösen und die konventionelle Zusammenarbeit der Planung, Verbindlichkeit und Gemeinsamkeit aufzugeben! Nicht für alle Aufgaben oder Herausforderungen ist die multitude die adäquate Form der Zusammenarbeit. Gleichzeitig plädiere ich jedoch dafür, mit einem Fokus auf das Potenzial der multitude in Unternehmen sinnvolle, echte Frei-Räume zu öffnen und damit wertvolle Effizienzen zu heben. Wo Menschen in offener Bewegung als Viele agieren können, werden Emergenzen nutzbar. Vertraut man in diese und versucht auf der Welle des Flow zu surfen, so transformiert die multitude ihre eigene VUCA-ness von ganz allein in die Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit guter Ergebnisse.

Johannes Ries