In der zeitgenössischen Philosophie kreist eine Hauptdiskussion derzeit um das Paradigma des Ausnahmezustands. Dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben zufolge leben wir heute in einer Situation, in der Orientierungspunkte mehr und mehr aufgelöst sind. Regel und Ausnahme sind ununterscheidbar geworden und Akteuren ist es aufgrund der Unübersichtlichkeit zunehmend unmöglich, verlässliche Unter- oder Entscheidungen zu treffen. Der so entstehende Ausnahmezustand wirkt »anomisch« (ohne Normen): alle Bestimmungen sind deaktiviert. Während sich der Mensch früher vor allem damit auseinandersetzen musste, wie er die klar an ihn gestellten Anforderungen der gesellschaftlichen Regeln und Normen erfüllen kann, liegt seine größte Herausforderung heute darin, an der eigenen (existenziellen) Unsicherheit und/oder (psychischen) Verunsicherung nicht zu zerbrechen.

Es ist frappierend, wie oft uns als SYNNECTA-BeraterInnen aus den Aussagen von MitarbeiterInnen und Führungskräften dieser Ausnahmezustand aus Unternehmensperspektive beschrieben wird: Die Klage über mangelnde Orientierung im Unternehmen ist ein Dauerbrenner, der in zunehmenden Maße über alle Branchen hinweg zu vernehmen ist. Das Geschäft wird in vielen Bereichen als immer volatiler werdend gezeichnet, sodass die früher zuverlässig arbeitenden Planungstools heute wertlos geworden sind oder – so man sich auf sie verlässt – nur noch zu bösen Überraschungen führen.

Führungskräfte und MitarbeiterInnen sind aufgrund von mobiler Kommunikationstechnik rund um die Uhr erreichbar, die Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben ist längst verschwommen. Matrixlinien durchziehen Unternehmen in vielfältiger Weise – Führungskräfte haben den Überblick verloren und es fehlt ihnen der direkte Durchgriff auf MitarbeiterInnen, von deren Beitrag jedoch ihre Zielerreichung abhängt. In immer geringeren Abständen werden Change Projekte aufgesetzt und top-down verordnete Kehrtwendungen vollzogen. Die Kalender werden von allen Seiten mit Terminen zugebucht, sodass Tageszeiten mitunter dreifach belegt sind. Im E-Mail-Postfach gehen im Minutentakt ellenlange Nachrichten mit langen CC-Ketten ein, sodass MitarbeiterInnen von der Informationsflut überfordert sind. Mit am besorgniserregendsten sind die offenen Berichte vieler, dass sie das Gefühl haben, nicht mehr Herr des Geschäfts zu sein, sondern sich über Monate und Jahre hinweg nur noch als »vom Geschäft getrieben« erleben. Burn-out ist nur eine Reaktion von einzelnen, von immer mehr Menschen auf ihre anomische Situation im Ausnahmezustand.

All diese Phänomene könnten singulär betrachtet vielleicht relativ gut behoben werden. In der Summe jedoch – so die hier vertretene Hypothese – versetzen sie ein Unternehmen in den anomischen Ausnahmezustand. Die Einzelphänomene entwickeln in ihrer Verkettung eine Eigendynamik, die sich der Steuerbarkeit durch Einzelne vollständig entzieht.

Im Anschluss an Agamben arbeitet die Kulturphilosophin Yana Milev daran, wie vom Ausnahmezustand betroffenen Menschen aus der passiven Opferrolle zurück in die aktive Handlungsposition gelangen können. »Emergency Designs« nennt Milev alle souveränen Reaktionen auf den Ausnahmezustand, die vor allem auf Spontaneität, situativen Handeln und Kreativität beruhen. Die spannende Perspektive der Philosophin: »Emergency« und »Emergenz« hängen für sie eng zusammen, d.h. der Ausnahmezustand als Dauerkrise trägt in sich energetisches Potenzial, das gehoben und gegen die anomische Situation selbst gewendet werden kann.

Im Transfer der philosophischen Gedanken auf die ernsthafte Situation von Organisationen arbeitet die SYNNECTA derzeit daran, neue Beratungskonzepte zu entwickeln, die Unternehmen, Teams, Führungskräfte und MitarbeiterInnen dabei unterstützen, im organisatorischen Ausnahmezustand wieder Souveränität zu etablieren und »Herr der Lage« zu werden:

1. Analyse: SYNNECTA Diagnostics entwickelt derzeit ein Analysetool, mit welchem in Organisationen oder Teams analysiert werden kann, ob bzw. zu welchem Grad sich das soziale und strukturelle Gefüge im Ausnahmezustand befindet.

2. Intervention: Spezielle, schnell wirksame Interventionsformate sollen es ermöglichen, Unternehmen und ihre MitarbeiterInnen kurzfristig innerhalb des Ausnahmezustands wieder handlungsfähig zu machen.

3. Transformation: Mit einer nachhaltigen Beratungsperspektive wird daran gearbeitet, wie Organisationen im Ausnahmezustand fundiert wieder in einen Normalzustand überführt werden können.

4. Prävention: Schließlich wird ein Präventivkonzept diskutiert, welches in Unternehmen vorausschauend verhindert, dass der Ausnahmezustand sich überhaupt (erneut) etablieren kann.

Bei der Entwicklung des Konzepts nutzt die SYNNECTA wie so oft die Vielfalt ihrer BeraterInnen bezüglich Ausbildung, Erfahrungshorizont und Beratungsschwerpunkten. Äußerst vielversprechend ist auch der Transfer aus unterschiedlichsten unternehmensfernen Welten: Die Querverbindung zum Beispiel von Katastrophen- und Relienzforschung, prekarisierten Sozialmilieus, nomadisch lebenden ethnischen Gruppen, zeitgenössischer Kunst, politischer Philosophie oder Aikido mit Wirtschaftsunternehmen befruchtet die kreative Diskussion, steigert den Innovationsgrad des Konzepts und sichert eine ganzheitliche Perspektive.

Erste Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem Thema Ausnahmezustand in Unternehmen werden auf der kommenden SophiaWerkstatt präsentiert und weiter zur Diskussion gestellt werden.

Johannes Ries