Die Abenteuergeschichten zuerst, bitte.
Erklärungen brauchen immer so schrecklich lange …

(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)

Mythen haben in unserer aufgeklärten, modernen Welt keinen Platz mehr – sie werden durch Tatsachen verdrängt. Gemeinhin wird der Mythos als »falsches Bewusstsein« und Widersacher des Logos verfemt. Während letzterer sich auf die Realität und ihre rationale Verarbeitung konzentriert, verzerrt der Mythos die Fakten und baut aus ihnen bzw. um sie herum ein Fanatasiegebäude. Das lassen wir in Form von Märchen vielleicht noch in der Welt unserer Kinder gelten. In der Normalität des Alltags jedoch erkennen wir keinen Mehrwert des Mythos.

Konsequenterweise geben auch Unternehmen immer Logik und Kalkulation den Vorzug. Ihre Welt funktioniert auf der Basis von Fakten und Daten, die mit Vernunft und Rechnung schlüssig verarbeitet werden können. Ein »Bauchgefühl«, ein »Wittern« von Gefahr oder ein »Riecher« für eine Gelegenheit überzeugen keinen Vorstand. Wer sich im Unternehmensdiskurs intuitiv äußert, wird erst einmal dazu verdonnert, seinen Instinkt mit einem aufwändigen Business Case und mit validen Zahlen zu belegen. Unternehmen werden aber nicht nur zahlenbasiert gesteuert, sie werden immer datenintensiver: Softwarebasierte Strategiecockpits lassen detaillierte KPI-Checks zu. Die erfolgsabhängige Vergütung wird an logisch abgeleitete Zielkaskaden und Performancebewertungen gehängt, welche die erbrachte Leistung bzw. den Zielerreichungsgrad messen und in Bonus umrechnen. Projekterfolge müssen bereits im Voraus über genaue Zieldefinitionen und Kennzahltabellen belegbar gemachtwerden …

Unternehmen profitieren davon, dass die logische Vermessung unserer Welt auch in den Märkten und Konsumentensegmenten immer mehr Daten generiert. Durch Webtechnologie werden Menschen hinsichtlich ihres Konsumprofils, Such- und Leseinteresses, Gesundheitszustands, Freundeskreises, Reiseverhaltens etc. immer transparenter. In der Korrelation dieser Daten werden Profilgruppen in ihrem Verhalten gleichzeitig auch immer berechenbarer. Konsequent rief 2008 der Chefredakteur des Wired Magazine Chris Anderson das »Ende der Theorie« aus: Heute benötigen wir keine Theorie mehr, da wir mittlerweile über so große Datenmengen verfügen, dass wir Antworten auf Fragestellungen einfach statistisch ausrechnen und Prognosen für die Zukunft computertechnisch simulieren können. Hypothesen werden hinfällig, da Daten sofort abgeglichen werden können. »Forget taxonomy, ontology, and psychology. Who knows why people do what they do? The point ist they do it, and we can track and measure it with unprecedented fidelity. With enough data, the numbers speak for themselves.«

Jedoch: Alle zwei Jahre verdoppelt sich das globale Datenvolumen und wird damit zunehmen zu Big Data, um eine der neuesten Phrasen für die Beschreibung einer zentralen Herausforderung in der Unternehmenswelt zu dreschen. Eine neue Industrie arbeitet mittlerweile daran, Unternehmen Software und Technologien anzubieten, die ihnen in der Auswertung der immer größer werdenden, an Komplexität zunehmenden und sich schnell wandelnden Datensätzen Wettbewerbsvorteile verschaffen. Logische Algorithmen versuchen die Flut der Daten zu bändigen.

Jedoch bei aller Technologie: Mehr Information heißt nicht automatisch mehr Wissen. Die zunehmende Berechnung der Unternehmenswelt führt bei ihren Bewohnern nicht automatisch zu einem gesteigerten Gefühl der Sicherheit. Sicherheitsgefühl und Wohlergehen lassen sich nicht allein an nackte Zahlen binden. Denn Zahlen können zwar ein »Was?« ausleuchten, nicht jedoch das sinnstiftende »Warum?«, wie die leitende Wissenschaftlerin von Microsoft Research, Dannah Boyd beharrlich konstatiert. »Dataismus ist Nihilismus«, schreibt daher der Philosoph Byung Chul Han. »Sinn beruht dagegen auf der Narration«, auf einer guten Geschichte. »Zählung ist nicht Erzählung. (…) Nicht Zählen, sondern Erzählen führt zur Selbstfindung oder zur Selbsterkenntnis.« In das gleiche Horn stößt der Chaosforscher und Psychologe Andreas Huber: Er konstatiert, dass wir die gesteigerte Komplexität unserer VUCA-Welt nur noch über ein metaphorisches Denken verstehen und beschreibbar machen können. So gesehen kündigt Chris Anderson mit seinem einseitigen Lob der Datenmessung und der Verabschiedung jeder Theorie das sinnvolle (genauer: Sinn-volle) Arbeiten auf.

Die Logik der Fakten und Zahlen stößt genau hier an ihre Grenzen. Sie kann nicht erzählen. Sie kann nicht metaphorisch denken. Sie kann nicht die Sinnfrage stellen. Das alles kann aber der Mythos. Ich möchte hier die Hypothese aufstellen, dass Unternehmen in der VUCA-Situation in erhöhtem Maße eine – wie es Hans Blumenberg nennt – »Arbeit am Mythos« benötigen, um mit dem verwirrenden »Absolutismus der Wirklichkeit« fertig zu werden. Dabei geht es mir nicht darum, den Logos durch den Mythos zu ersetzen; ich plädiere lediglich dafür, dass neben allen sinnvoll eingesetzten Daten-, Mess- und Analyseinstrumenten eine narrative Struktur Mitarbeitenden tiefgreifende Orientierung bieten kann – auch bzw. vor allem dann, wenn kein konkretes Ziel in Sicht ist und/oder der genaue Weg im Dunkeln liegt. Ich glaube, dass Führungskräfte mit einem Fokus auf das Erzählen im Unternehmen eine richtungsweisende Klarheit schaffen können, die für Mitarbeitende intuitiv erfassbar ist und ihnen gleichzeitig genügend Freiraum zum Handeln lässt.

In diesem Blog habe ich sechs AIKIDO-Prinzipien formuliert, mit denen Menschen und Unternehmen VUCA wirksamer begegnen können. Der Mythos ist kompatibel mit den ersten drei Grundhaltungen Agilität, Klarheit und Intuition. Als Erzählung, mit der die Welt und das Dasein in sinnvollen Bezug gesetzt werden, spielt der Mythos seit jeher eine kulturstiftende Rolle. Ohne etwas logisch zu belegen, konzentriert er sich auf die Wahrheit hinter den Fakten. Er äußert sich assoziativ in Bildern und Symbolen und spricht als Musik in Worten (Kerenyi) über den Inhalt eine intuitiv erfassbare und empathisch erfahrbare Sprache. Dabei liefert der Mythos einen einfachen Grundtext, der in seiner konkreten Ausformulierung ständig variabel bleibt. »Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird«, schreibt Levi-Strauss, einer der bekanntesten Mythenforscher. Das heißt: jeder Mensch kann grundsätzlich einen Mythos kreieren bzw. ihn auf seine persönliche Art und Weise erzählen. Der Inhalt des Mythos liefert eine sinnhafte und Sinn stiftende Vorlage, die das »Warum?« beantwortet. Er transportiert gleichzeitig ein Wertegerüst, an dem Menschen ihr Handeln ausrichten können. Während Daten einen differenzierten, logischen Realitätssinn erlauben, hilft der Mythos dabei, Inhalte zu filtern, Mitarbeitende zu zentrieren und auf das Wesentliche zu fokussieren. Darin liegt seine grundsätzlich klärende Kraft. Dabei erlaubt der Mythos jedoch stets Freiraum für bewegliches Agieren und geht damit konform mit einem dritten AIKIDO-Prinzip der Agilität. Seine Aussagen bleiben an das konkrete, bildhafte Ereignis der Erzählung gebunden, erfolgen also immer nur exemplarisch und erlauben Interpretation. Ein Mythos stellt niemals eine Prozessbeschreibung oder ein Regelbuch zur Verfügung sondern verbildlicht exemplarisch Prinzipien, die vom Menschen selbst in der konkreten Situation in Verhaltensregeln übersetzt werden müssen.

In der VUCA-Situation können Führungskräfte also durch eine intuitiv wirkende, klärende Erzählung die Kraft des Mythos wirksam machen. Als Minimalstruktur für eine Führungserzählung schlage ich dabei folgende, in der Beratungspraxis bewährte Storyline vor:

  1. Situationsbeschreibung: Was ist unsere aktuelle Herausforderung?
  2. Purpose Statement: Welchen Sinn stiften wir gemeinsam?
  3. Value Statement: Welche Grundwerte dienen unserem Tun als Leitplanken?
  4. Leadership Statement: Wie führe ich Euch auf dem Weg, worauf könnt Ihr bei mir vertrauen?

Man beachte, dass die Führungserzählung von Volatilität und Zukunftsungewissheit nicht »angreifbar« ist. Denn sie fragt nicht konkret: Welches Ziel haben wir? Welche Regeln wenden wir an? Was sind meine Erwartungen? Sie bleibt in ihrer zieltechnischen Zukunftsbeschreibung bewusst fuzzy, ist jedoch aus dem Moment heraus verhaltensorientierend.

Eine gute Führungserzählung findet kurze, pointierte Antworten auf die Fragen und ist im Kern in maximal einer Minute erzählt. Die Kürze der Erzählung hilft der Zuspitzung der Inhalte und schafft Eingängigkeit. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, dass sich Führungskräfte ihre Führungsgeschichten gegenseitig vortragen und anschließend Feedback geben, um die Wirkung ihrer narrativen Struktur zu testen.

Der Inhalt der Führungserzählung wird idealerweisemit Metaphern angereichert. Eine gute Erzählung öffnet oder schließt mit einer Assoziation, einem Symbol, einem Motto, einem Leitspruch … Die Statements zu Purpose, Value und Leadership können und sollten nicht nur über Worte als Geschichte erzählt, sondern in Bildern illustriert, in Assoziationen emotionalisiert, in Gegenständen symbolisiert, in Erfahrungen empathisch begreifbar gemacht werden.

Mythen werden nie nur einmal vorgetragen. Sie leben davon, dass sie immer wieder erzählt werden – mit gleichem Inhalt jedoch auf immer neue Art und Weise. Erfolgreiche Kommunikation lebt von Redundanz, von Wiederholung, von Doppelung. Erzählen heißt nicht, dass ich eine Powerpointpräsentation halte und die Folien zur Verfügung stelle. Oder dass ich eine Hochglanzbroschüre drucken lasse und sie auslege. Die Erzählung bedarf der Oralität. Um wirksam zu werden, müssen Führungskräfte mit ihrer Erzählung immer wieder spontan in Gespräche einsteigen, Meetings inspirieren, das Kantinengespräch beleben, den Flurfunk positiv besetzen … Der Inhalt bleibt dabei gleich, die Art der konkreten Erzählung wird jedoch je nach Situation spontan angepasst. Überall dort, wo erzählt werden kann, kann der gleiche Erzählkernso auf vielfältige Art wuchern.

Social Media bieten – bei allen Vorbehalten und aller Abneigung, die man gegen sie hegen mag – eine zusätzliche attraktive Kommunikationsplattform für Führungskräfte, um ihre Erzählungen fruchtbar zu platzieren und damit ihre Mitarbeitenden erzählend zu orientieren. Facebook und Co. zeigen, welche Attraktivität das Erzählen gegenüber dem Zählen hat. Statistiken, Balkendiagramme, Zahlenkolonnen sind in diesen sozialen Medien quasi nicht existent. Dafür werden die Posts von Filmschnipseln, Bildern, Sinnsprüchen, Klatschgeschichten, Kurzinformationen dominiert. In sozialen Netzwerken tippen die Nutzer zwar am Computer ihre Botschaften; die Plattformen wirken jedoch nach Gesetzen des gesprochenen Wortes. Im Gegensatz zu hierarchischen, statusorientierten Bürokratien haben orale, community-basierte Netzwerke eine viral wirkenden Kommunikationsstruktur: Durch die strukturierte Gleichheit aller Teilnehmer verbreitet sich hier die Botschaft am schnellsten, die den attraktivsten Inhalt hat.

Genau hier kann sich der narrative Vorteil einer Führungserzählung entfalten: In Social Media kontinuierlich den mit Purpose, Value und Leadership Statment korrespondierenden Filmclip, das adäquate Zitat, das aussagekräftige Bild, das paradimatische Ereignis, den zur Diskussion einladenden Link zu posten, gibt einer Führungskraft die Möglichkeit, immer wieder – aber immer wieder auf neue Art und Weise – einen orientierenden Erzählkern wiederkehren zu lassen. In diesem Sinne werden gute Führungskräfte im Digital Workspace ein neues Kompetenzprofil benötigen: Neben dem logischen Denker wird im inneren Führungsteam auch der wortgewandte Literat, der ästhetische Künstler und der kreative Bastler vertreten sein müssen.

Mit diesen Ausführungen möchte ich nicht für eine verdummende Verblendung oder unethische Manipulation von Mitarbeitenden plädieren! Ganz im Gegenteil: Ich möchte die Führungskraft in die Pflicht nehmen. Es geht darum, durch erzählende Führung kontinuierlich ein Sinn-, Werte- und Führungsversprechen zu erneuern, an dem sich die Führungskraft in der Praxis messen lässt. Damit kann – so bin ich überzeugt – das Erzählen ein wertvolles Führungsinstrument werden, das Mitarbeitende in Unternehmen mit der intuitiven Klarheit des Mythos besser durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität führen kann.

Johannes Ries